Montag, 4. Juni 2012
Eine ungewisse Zukunft und alle so „yeah“
Die Frankfurter Rundschau bietet heute ein besonders interessantes Interview („Eliten sind Teil des Problems“) mit dem Soziologen und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer an.

Darin spricht Heitmeyer einige Aspekte an, die auch ich für besonders besorgniserregend halte und die eigentlich viel stärker öffentlich thematisiert werden sollten. Im Folgenden werde ich einige Aussagen Heitmeyers zitieren und kommentieren.


Zu den Auswirkungen der „Finanzkrise“ sagt Heitmeyer:

[…]Sie hat den Druck im gesellschaftlichen Gefüge verstärkt. Zugleich sind die Auswirkungen nicht sofort sichtbar, weil es sich um schleichende Prozesse handelt wie die Ökonomisierung des Sozialen, die Demokratie-Entleerung und auch eine spezifische Orientierungslosigkeit, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. […]

Ich bin der Meinung, dass es uns bzw. vielen insgesamt noch „zu gut“ geht. Viele sind noch gefangen in einer Seifenblase, die durch das „Brot und Spiele“ des Kapitalismus künstlich am Leben gehalten wird. Die Weichen für eine wesentlich schlechtere Zukunft, als es unsere Eltern und Großeltern gehabt haben, werden gestellt und es regt sich kaum Protest, da es auch niemand sieht oder sehen will.

Auch spricht Heitmeyer die wachsende Ungleichheit und ihre zerstörerische Auswirkung auf eine Gesellschaft an. Diesen Aspekt muss man sowohl national als auch in einer globalisierten Welt international betrachten. Die Flüchtlingswellen ins reiche Europa sind nicht nur Folgen eines unfairen globalen Wirtschaftssystems, sondern letztlich auch das Resultat einer zunehmenden Ungleichheit. Die ärmsten Bevölkerungsschichten haben es immer schwieriger und ihre Masse nimmt zu, während gleichzeitig auch die reichsten Bevölkerungsschichten zulegen, aber auch immer mehr an materiellen Ressourcen auf Kosten der Ärmsten an sich reissen. Die mittlere Schicht dazwischen löst sich nach oben und vor allen Dingen nach unten hin auf.

National macht sich eine solche Ungleichheit bemerkbar an einer zunehmenden Frust am politischen und wirtschaftlichen System und den damit einhergehenden Vertrauensverlust in dieses System. „Die da unten“ fühlen sich immer mehr als Verlierer und haben kaum Aufstiegschancen – um sich Sorgen in Deutschland zu machen, genügt dazu auch ein Blick in deutsche Schulen bzw. auf das deutsche Schulsystem. Bedauerlicherweise ist dies in erster Linie besonders eine Gefahr für demokratische Strukturen, wenn sie auch nur pseudo-demokratisch sein mögen. Wenn nicht radikale, undemokratische Bewegungen, welche durch die Gefrusteten an Zulauf gewinnen, so ist es der angeblich ach so tolle Kapitalismus, der zähnefletschend an seinem selbstzerstörerischen Kurs festhält und die wenigen, vorhandenen demokratischen Erscheinungen wie zum Beispiel die Versammlungsfreiheit verzehrt.

So meint Heitmeyer zu den Occupy-Protesten:

[…] Gegen Ansätze wie die Occupy-Bewegung ist die Staatsmacht, speziell in den USA, mit einer martialischen Kontrolldrohung vorgegangen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich konnte das in New York selbst beobachten. Das ist die praktizierte staatliche Verlängerung des autoritären Kapitalismus. Und das Signal gerade an junge Leute ist klar: „Bewegt euch ja nicht! Sonst kriegt ihr richtig Ärger“. […]

Und da man bekanntlich nicht von Luft und gerechten Ideen leben kann, „bewegt“ man sich eben nicht und die meisten denken deswegen noch nicht einmal daran.

[…] Was sie auch tun oder lassen, es kann ihnen die ganze Lebensplanung zerhacken. Aus der Freiheit der Entscheidung ist eine permanente Last geworden, weil die Konsequenzen individuell zu tragen sind – von klein auf. Die Bedingungen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt ändern sich immer schneller. Die Lebenswege werden immer unberechenbarer. Junge Leute wissen heute vielfach nicht mehr, wofür sie sich entscheiden sollen. So werden wir alle kleinlaute Zeugen einer Abschaffung von Kindheit und Jugend. Eigentlich ein Skandal, den aber kaum jemand im Hamsterrad der Konkurrenz öffentlich thematisieren mag, um nur ja nicht schon vorweg als „Gutmensch“ abgewatscht zu werden. […]

Das System ist nicht zu ändern, wenn nicht die überwiegende Mehrheit der Betroffenen aktiv eine Veränderung anstrebt. Man kann natürlich auch warten bis das System an seiner eigenen Irrationalität zerbricht. Einzelne alleine müssen sich fragen, ob es sich lohnt die eigene Zukunft in dem derzeit wahrscheinlichen Fall, dass sie das System nicht so schnell ändern können, zu riskieren. Am Ende müssen nämlich auch diejenigen, die gegen das System aufgestanden sind, von irgendetwas leben und Nahrung zu sich nehmen. Ein paar stehen auf und tun etwas, die große Masse schaut nur zu oder gleich lieber Bundesliga.

[…] aber es greift in der Tat eine Entmoralisierung um sich. Das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen wird aufgekündigt. Das heißt, man wertet andere Menschen ab, insbesondere schwache Gruppen, um sich selbst aufzuwerten. Und die Maxime „Rette sich, wer kann“ gewinnt an Bedeutung. Übrigens ist das ein wesentlicher Grund dafür, dass es insgesamt bislang kaum zu nennenswerten kollektiven Protesten gekommen ist. In einer individualisierten Gesellschaft entsteht dafür kein Bewusstsein mehr. […]

Am Ende ist sich doch jeder selbst der Nächste und dies wird der Masse tagtäglich in den Medien und durch „Eliten“ aus Politik und Wirtschaft vorgelebt. Es stellt sich die Frage: Aufstand riskieren und für das Allgemeinwohl eintreten oder selbst ein Teil des „rat race“ sein und an sich selbst denken. Das Ergebnis für den Einzelnen ist bei beiden Optionen ungewiss, für eine Gesellschaft ist aber das Letztere ein Gift.

[…]Es gibt Vergleichsprozesse nicht nur zwischen Menschen innerhalb eines Landes, sondern in verschiedenen Ländern. Wenn Jugendliche in Deutschland sehen, wie dreckig es ihren Altersgenossen in Spanien oder Griechenland geht, sagen sie sich: „Da sind wir noch gut dran.“ Und schon zerbröselt – trotz aller Unklarheit über die eigene Zukunft und die Zukunft der Gesellschaft – ein Motiv für kollektiven Protest. […]

Bis die Seifenblase platzt, doch dann ist es bereits zu spät.

[…] Zudem haben wir Glück gehabt, dass die verschiedenen Krisen zeitlich „gestaffelt“ und nicht kumulativ aufgetreten sind. […]

Dass Krisen und krisenhafte Ereignise aller Art auch mal kumulativ, also gehäuft auftreten werden, halte ich für sehr wahrscheinlich. Beispielsweise nimmt meiner Meinung nach die Möglichkeit, dass wirtschaftliche Krisen zeitgleich bzw. zeitnah mit Natur- oder Umweltkatastrophen eintreten, eher zu als ab – wenn das eine nicht sogar das andere (mit) verursacht. Zwar besteht dann auch die Chance, dass das bestehende System durch ein gerechteres abgelöst wird, aber es ist eben nur eine Chance und keineswegs Gewissheit. Außerdem sind der Preis dafür und sonstige Auswirkungen gehäufter Krisen und Katastrophen unabsehbar.

Heitmeyers Vorschlag für eine gesellschaftliche Debatte:

[…]Wir sollten die gesellschaftliche Integrationsqualität für Alteingesessene und Zugewanderte gleichermaßen überprüfen. Wir müssen immer wieder neu überlegen, wie wir der Ökonomisierung des Sozialen entgegentreten können – gegen die Ideologie der Ungleichwertigkeit aufgrund von Kategorien wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz von Personen und Gruppen. Und ich frage: Wo bleibt eigentlich in Deutschland die produktive Unruhe für eine neue Kultur der Anerkennung? […]

Dem stimme ich zu. Der Mensch muss sich von den Fängen unseres gegenwärtigen kapitalistischen Systems befreien. Letztlich war es doch so, dass man arbeitet, um zu leben und nicht lebt, um zu arbeiten.



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